Genießbar bleiben
Ein Essay von Obfrau Claudia Plaikner
Das „Genussland Südtirol" steht vor der Herausforderung, weiterhin genießbar zu bleiben. Dafür bedarf es der Erkenntnis, dass „Genuss“ und „genug“ enger verwandt sind als gemeinhin angenommen. Verzicht ist nicht als Unwort wahrzunehmen, sondern als unabdingbare Voraussetzung.
"Woher kommen Sie?" Wenn die Antwort "Südtirol“ lautet, so schlagen die Herzen lauter und in der Regel einem entgegen. Umgekehrt lernen immer mehr reisende Menschen es kennen, das verheißungsvolle Land an der Schnittstelle von deutschem und romanischem Kulturkreis, das alles bietet: hochalpine bis mediterrane Landschaften, vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, schönes Wetter, Kultur, Kulinarik auf hohem Niveau, Gastfreundschaft.
„Die Besten“ sein
„Die Besten“ zu sein, gehört nicht nur zu den Versprechen der touristischen Werbebranche, sondern weitgehend auch zum Selbstverständnis des Südtirolers/der Südtirolerin. Als Gastgeberland muss Südtirol viele Herausforderungen bewältigen: einen regelrechten Ansturm von Touristen aufnehmen und kanalisieren, verkehrs- und freizeittechnische Infrastrukturen bereitstellen, einen Service auf hohem Niveau anbieten. Kann dieses kleine Land, eingebettet in die schönsten Gebirgslandschaften der Welt, diesen ständig wachsenden Ansprüchen gerecht werden, first class in allem sein?
Sich eine Auszeit genehmigen, Urlaub machen erscheint zum Anspruchsrecht zu den „Grundrechten“ des tüchtig arbeitenden Menschen geworden zu sein. (Man gönnt sich ja sonst nichts!) Also raus aus dem Alltag und hinein in das Verwöhnt-Werden, in den Genuss!
Es gibt allerdings auch den Urlaubenden, der selbst jetzt seine körperliche Fitness steigern und sich selbst oder den anderen unter Beweis stellen will. Genießen muss man sich also zuerst mal verdienen: Nach den vielen überwundenen Höhenmetern hat man sich das Sieben-Gänge-Menü am Abend verdient. Die Smartwatch gibt darüber Rechenschaft, ob zwischen Kalorienverbrauch und -zuführung ein adäquater Ausgleich besteht.
Was ist also Genuss? Ein Begriff, der in seinen Extrempositionen Hedonismus und Plackerei gleichermaßen umfasst?
Ein Seitental im Vinschgau wurde kürzlich zur Genuss-Arena erklärt. In Südtirol steht das facettenreiche Wort „Genuss“ häufig im Dienst der Kulinarik: Genuss über den Gaumen also. Freilich: die Kombination mit „Arena“ lässt hier die Assoziation mit Kampf, Kompetition aufkommen - ist das im Sinne der Erfinder?
Von Konstantin Wecker stammt das Zitat „Wer nicht genießt, ist ungenießbar.“ Genuss scheint also eine wichtige Kompetenz des Menschen - vor allem als sozial agierendes Wesen - zu sein. Unsympathisch derjenige/diejenige, der/die auf das zweite Glas Wein in geselliger Runde verzichtet oder die Nachspeise ablehnt.
Christian Morgenstern moniert aber: „Genuss kann unmöglich das Ziel des Lebens sein. Genuss ohne etwas darüber ist etwas Gemeines.“ Also auch abstrakte, nicht ausschließlich die Papillen unseres Mund- und Rachenraumes betreffende Genüsse, das „etwas darüber“ schließt dieser Begriff ein und kann mit zahlreichen Synonymen umschrieben werden: Freude, Wohlgefallen, Beglückung, Befriedigung, Pläsier, Vergnügen, Lust, Spaß, Fun usw.: Der Begriff bezieht sich also auch auf kulturelle und soziale Genüsse.
„Genuss“ und „genug“ sind eng verwandt
Obwohl etymologisch nicht miteinander verwandt, so doch lautmalerisch ähnlich sind die Worte „Genuss“ und „genug“ und man kann sich kaum des Verdachts erwehren, dass sie enger verwandt sind als es die - nicht existierende - etymologische Blutsverwandtschaft nahelegen würde.
In einer immer komplexer werdenden Welt, in der der Welterschöpfungstag - also der Tag, an dem wir nur mehr „auf Pump“ und auf Kosten der Umwelt leben - immer weiter nach vorne rückt, hat wohl selbst der gedankenlose, selbstoptimierte Egozentriker das ungute Gefühl, dass sich vieles ändert und dass eingeschliffene Lebensweisen einer Korrektur bedürfen, sollten wir an einem Fortbestand unseres Lebensraumes interessiert sein.
Dass es auch in Südtirol in vielerlei Hinsicht genug ist, davon sprechen die steigenden CO2-Emissionen, die unerschwinglichen Immobilienpreise, die Überbeanspruchung der Naturräume, der Verlust der Biodiversität, die steigende Selbstmordrate, die Vereinsamung, die Entsolidarisierung.
Südtirol muss wie viele stark entwickelte Länder, um weiterhin genießbar zu bleiben, „es ist genug“ sagen. Die Beschränkung, der Verzicht - bisher ein Unwort, weil es an harte Zeiten, Entbehrung und Defizit erinnert - ist eine unabdingbare Voraussetzung, um als Wirtschafts- und Solidargemeinschaft in die Zukunft zu kommen.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Gedanke des sich Begnügens, des Verzichts seit der Antike und in der Frühzeit der Kapitalismus als Schlüssel zur zivilisatorischen Entwicklung angesehen wurde und wichtiger Bestandteil der Vorstellung von einem guten und richtigen Leben war. Erst der Neoliberalismus hat in der Bewertung des individuellen Konsums einen Paradigmenwechsel vollzogen und ihn von Gemeinschaft und Natur entkoppelt. In freier Abwandlung der Descart’schen Sentenz gilt: Ich konsumiere, also bin ich!
Das Kostbarste bekommen wir geschenkt
Als Gegenposition gilt aber immer noch die Binsenweisheit: Das Kostbarste bekommen wir geschenkt: Freundschaft, Liebe, Zeit, Schönheit, Gesundheit, Freiheit und vieles mehr. Was kann mit einer erfüllenden menschlichen Beziehung oder Besegnung aufgewogen werden? Was beglückt mehr als ein bereichernder, gedanklicher Austausch mit freundlichen Menschen? Wann lebe und erlebe ich intensiver als in der Stille?
Die Ruhe der Wälder, die Farben der Jahreszeiten, die Hügellandschaft mit den Flurgehölzen, die hohen Bergesgipfel, immer wieder Gewässer, die Kulturlandschaft mit Schlössern, Ansitzen, historischen Bauernhöfen: so viel Klischee und doch - noch - so real in Südtirol! Freilich - immer mehr Ziel von Begehrlichkeiten, Siedlungsräume teilweise auch schon für immer verunstaltet, Lebensräume der Wildtiere gestört, unwegsamste Gegenden erschlossen, wertvolle historische Bauten abgerissen, Landschaft zersiedelt, Täler mit großen Verkehrsadern durchzogen.
Genuss hat mit Langsamkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit zu tun: Die Entwicklung einer intensiven und nachwirkenden Beziehung zur Landschaft und zum Menschen geht über diese Haltung, das gilt für den Einheimischen ebenso wie für den Gast. Indem wir auf Dinge verzichten, können wir wichtigere Ziele erreichen. Freiheit statt Forderung, Genuss statt Konsum; Authentizität statt Surrogat; Reduzierung statt Menge; Freundlichkeit statt Vereinnahmung. Selma Mahlknecht stellt uns in Aussicht; „Vielleicht entdecken wir Genüsse, die uns bisher entgangen sind.“ Und der Ökonom und Politikwissenschattier Philipp Lepenies konstatiert, dass ein gutes gelingendes Leben nicht von den materiellen Ressourcen abhänge, sondern von unseren tatsächlichen Möglichkeiten, von unseren Verwirklichungschancen - und dazu gehöre eben auch die Fähigkeit zum Verzicht.
Auf die Frage, woher ich komme, würde ich gerne antworten können: „Aus dem Genussland Südtirol, einem von der Schöpfung reich beschenkten Land, in dem sich alle - Einheimische wie Touristen - ihrer Verantwortung für Natur, Kultur und Mitmensch bewusst sind, diese wahrnehmen und sich wie rücksichtsvolle Gäste aufführen.“
aus Südtiroler Wirtschaftszeitung vom 20.01.2023