„Verkehrswende - jetzt!“
Das Auto hat Vorfahrt – Warum und wie sich das in Südtirol ändern muss
Der Klimaplan Südtirol 2040 sieht vor, dass der motorisierte Individualverkehr bis 2030 um 40 Prozent reduziert werden soll. Wenn wir das schaffen, dann helfen wir nicht nur dem Klima, sondern wir machen unsere Orte lebenswerter, unsere Landschaft schöner, unsere Gesellschaft gerechter, die Wirtschaft resilienter und unser Leben gesünder. Deshalb brauchen wir die Verkehrswende, und zwar jetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Siegeszug des Autos. Die Anzahl der Fahrzeuge stieg überall in Europa exponentiell an. Unter demMotto „Freie Fahrt für freie Bürger“ fand ein Paradigmenwechsel in der Verkehrs- und Raumplanung statt: Ab nun wurde das Auto zum unverzichtbaren Baustein, dem alles untergeordnet werden musste. Während vorher die verschiedenenMobilitätsarten relativ gleichberechtigt waren, wurde ab nun das Auto gegenüber Zufußgehen, Radfahren und öffentlichen Verkehrsmitteln in allen Bereichen priorisiert.
Das System Auto, eine Sackgasse!
Und so sehen unsere Dörfer und Städte heute aus: Der öffentliche Raum wurde vom Aufenthaltsraum, von einemsozialen Netzwerk zur Straße und zum Parkplatz. Der Mensch als Fußgängermuss sich entlang von meistens zu schmalen Gehsteigen von Zebrastreifen zu Zebrastreifen hangeln, um überhaupt das Hoheitsgebiet des Autos durchqueren zu können. Kinder dürfen nur mehr in abgesperrten Bereichen spielen, damit sie dem Autoverkehr nicht in die Quere kommen. In ganz Europa starben die Ortskerne aus, die Geschäfte verschwanden und wurdenmit Filialen großer Ketten am Ortsrand ersetzt, die nur mit dem Auto erreichbar sind. Im Bundesland Tirol hat zum Beispiel mehr als ein Drittel der Gemeinden kein eigenes Lebensmittelgeschäft mehr. Um es mit demArchitekten und Stadtplaner Jan Gehl zu sagen: „Umdas Leben in einem Dorf zu ersticken, gibt es kein effizienteres Mittel als das Auto.“ Trotz dieser absoluten Priorisierung des motorisierten Individualverkehrs, trotz Milliardenbeträgen und tausenden Hektar geopferter Landschaft und öffentlichen Raumes für die Straßeninfrastruktur steht das System Auto heute vor dem Kollaps. Während der „Rushhour“ und in den Urlaubszeiten steht praktisch das ganze Land im Stau, gewisse Orte werden zu bestimmten Zeiten von der Bevölkerung gemieden, der wertvolle Raum in Städten, Dörfern und sensiblen Zonen am Berg ist mit geparkten Autos vollgestopft. In den letzten 30 Jahren sind in der Europäischen Union etwa 1,3 Millionen Menschen im Straßenverkehr getötet worden, die Zahl der Opfer durch die Luftverschmutzung liegt umein Vielfaches höher. In Südtirol ist der motorisierte Individualverkehr für fast die Hälfte des CO2-Ausstoßes verantwortlich. Kurzum, das System Auto ist am Ende. Ein Umdenken muss so schnell wie möglich stattfinden.
Praxisbeispiel 1: Öffis nicht konkurrenzfähig Von Bozen aus erreicht man Tramin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln entweder mit zwei Buslinien über das Überetsch oder mit Zug und Bus über das Unterland. Zeitlich etwas vorteilhafter ist der Weg über das Unterland, also mit dem Zug von Bozen nach Auer oder Neumarkt und weiter mit dem Bus nach Tramin. Einmal pro Tag an Schultagen gibt es für diese Strecke eine besonders schnelle Verbindung: in 27 Minuten vom Zentrum von Bozen ins Zentrum von Tramin. Mit dem Auto ist diese Zeit äußerst konkurrenzfähig. Aber: Die normalen Verbindungen brauchen laut Fahrplan 40 Minuten. Dazu kommt, dass auf der Zugstrecke Bozen Richtung Süden die Pünktlichkeit laut Statistik nur bei 73 Prozent liegt, nach persönlicher Erfahrung zur „Rushhour“ morgens Richtung Bozen und abends Richtung Auer und Neu markt aber eher unter 30 Prozent. Es passiert deshalb immer wieder, dass man in Auer und manchmal auch in Neumarkt den Anschlussbus versäumt und sich damit die Gesamtfahrzeit auf bis zu 75 Minuten erhöht. Dass die Züge an den Bahnhöfen oft weitab von den Treppenaufgängen halten, der größte Bahnhof Südtirols in Bozen im Jahr 2023 noch immer nicht behindertengerecht ist, die Züge oft und die Busse manchmal ohne Ankündigung ausfallen, vielfach an den Bussen weder Nummer noch Start- und Zielort abgelesen werden können und manchmal die Busfahrer die Strecke nicht kennen, sei nur am Rande erwähnt. |
Freiheit vom Zwang zum Autofahren
Der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher hat bereits in den 1980er-Jahren verkündet: Was wir brauchen, ist die „Freiheit vom Zwang zum Autofahren“. Und auch der Shootingstar der neuen Mobilität, Katja Diehl, antwortet autobegeisterten Kritikern „Willst du oder musst du Auto fahren?“ Diese beiden Aussagen bringen das Problem auf den Punkt.Weil die Verkehrsplanung der vergangenen Jahrzehnte dem Auto jedes Hindernis aus dem Weg geräumt hat,müssen es diemeisten von uns verwenden, umdie täglichen Bedürfnisse zwischen Arbeit, Besorgungen und Freizeit zu erfüllen. Doch das muss nicht für immer so sein. Das zeigen Beispiele aus anderen Ländern. 44 Prozent der Menschen, die in Kopenhagen arbeiten oder zur Schule gehen, kommen mit dem Fahrrad dorthin, auch wenn sie von außerhalb der Stadt kommen. Und das tun sie nicht, wie Studien zeigen, weil sie besonders umweltfreundlich sind oder besonderen Wert auf ihre Gesundheit legen, sondern vor allem, weil es für sie das schnellste und das einfachste Verkehrsmittel ist. Dasselbe gilt übrigens für Gebiete, in denen das öffentliche Verkehrssystem gut funktioniert. Das heißt im Umkehrschluss, die Menschen fahren nichtmit dem Auto, weil sie alle begeisterte Motorsportler sind, sondern weil es dank einer fehlgeleiteten Verkehrspolitik das einzige schnelle und einfache Verkehrsmittel ist.
Infrastruktur hoch drei
Doch das kann man ändern. Und das braucht laut dem Landschaftsarchitekten und Verkehrsplaner Lorenz Siegel von Copenhagenize Design Company vor allem drei Maßnahmen: Infrastruktur, Infrastruktur und Infrastruktur. In und um Kopenhagen wurde das Radschnellwegenetz zwischen 2009 und 2022 von 0 auf 248 Kilometer ausgebaut, bis 2045 sollen weitere 500 Kilometer folgen. Radschnellwege sind voll ausgebaute, baulich vom Straßennetz getrennte und sichere Radinfrastrukturen, die nur ganz wenige und unbedingt notwendige Unterbrechungen im Fahrfluss aufweisen.
Dieser massive Ausbau hat dazu geführt, dass Pendler auf diesen Radschnellwegen auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz durchschnittlich elf Kilometer zurücklegen. Legt man das auf den Großraum Bozen um, dann liegen viele Dörfer und Städte wie Leifers, Eppan oder Terlan in diesem Entfernungsbereich. Die Verkehrsplaner Markus Lobis (siehe Interview) und Philipp Kleewein haben berechnet, dass 57 bis 70 Prozent der Südtiroler in einer sogenannten Fahrradgunstlage (wenig Steigungen, günstiges Klima, kürzere Strecken) leben und zumindest einen Teil ihrer täglichen Wege mit dem Fahrrad zurücklegen könnten. Für das öffentliche Verkehrssystem gilt dasselbe: Auch hier ist der Ausbau der Infrastruktur der Schlüssel zum Erfolg.
Praxisbeispiel 2: Radweg ist Umweg Die Strecke Tramin – Bozen führt mit dem Fahrrad entweder über das Überetsch oder über Auer und das Unterland. Für beide Varianten muss man zunächst auf der Straße fahren, denn die eigentlichen Fahrradwege beginnen erst außerhalb des Dorfes, Richtung Unterland sogar erst in der Nähe von Auer nach ca. fünf Kilometern. In der anderen Richtung hat man mehr Glück. Nördlich von Tramin hat man die Möglichkeit, den neuen Fahrradwegabschnitt Tramin – Kalterer See zu nutzen. Allerdings ist die Freude nur von kurzer Dauer, denn die Streckenführung führt auf und ab wie auf einer Buckelpiste, und als Radfahrer muss man auf einer Strecke von nur einem Kilometer acht Mal landwirtschaftlichen Zufahrten Vorfahrt geben. Auch auf dem Weiterweg Richtung Bozen wird es nicht besser, denn sowohl die Einfahrt zu einem Campingplatz, zu Wohnstraßen, einzelnen Geschäften und Restaurants haben für die Verkehrsplaner höhere Priorität als die Hauptverkehrsachse der Radfahrer aus dem Überetsch Richtung Bozen. Kurz vor dem Ziel werden die Radfahrer rund um Sigmundskron Richtung Süden ins Etschtal geführt, bevor sie nach ca. 1,5 Kilometer Umweg auf den Hauptradweg aus dem Unterland Richtung Bozen gelangen. Dass die Radwege an Kreuzungen immer wieder von Barrieren versperrt sind, um den Autoverkehr nicht zu behindern, der Radweg in Bozen entlang des Eisacks viel zu schmal ist und die Radwege im Winter als letztes oder gar nicht vom Schnee geräumt werden, sei nur am Rande erwähnt. |
Wo bleibt der Paradigmenwechsel?
In Südtirol ist in den vergangenen Jahren in Sachen nachhaltige Mobilität viel passiert. Der öffentliche Personennahverkehr wurde ausgebaut, das Südtirol-Pass-System ermöglicht eine einheitliche, schnelle und einfache Fahrscheinentwertung, und Vielfahrer bekommen ermäßigte Tarife. Auch in die Fahrradinfrastruktur ist viel Geld geflossen. Mit den Vorgaben im Klimaplan und im kürzlich präsentierten Mobilitätsplan setzt man sich ambitionierte Ziele für mehr nachhaltige Mobilität. Gleichzeitig fließen aber immer noch hunderte Millionen Euro in den Ausbau der Straßeninfrastruktur, die Autobahn soll südlich von Bozen um zwei dynamische Fahrspuren auf insgesamt sechs Spuren erweitert werden, überall im Land entstehen in Dörfern und Städten neue Parkplätze und Tiefgaragen. Vor allem aber merkt man bei genauem Hinsehen, dass der Paradigmenwechsel hin zur Verkehrswende auf den meisten zuständigen Ebenen, egal ob bei Politikern, Verkehrsplanern, Ordnungshütern oder Straßenarbeitern noch lange nicht stattgefunden hat.
Praxisbeispiel 3: Fußgänger sehen (meistens) Rot Ein besonderes Schmuckstück der Verkehrsplanung erwartet einen vor dem Haupteingang des Bahnhofes Bozen, wenn man die Straße Richtung Zentrum überqueren möchte. Um die 20 Meter lange Strecke auf dem Zebra streifen zu überwinden, gibt die Ampel den Fußgängern 12 Sekunden Grünzeit und 7 Sekunden gelb, bevor sie wieder rot wird. Die Grünzeit für die Autofahrer dauert dagegen 70 Sekunden. Der durchschnittliche Fußgänger kann also die Kreuzung nicht innerhalb der Grünzeit überqueren, ohne in einen unwürdigen Laufschritt zu fallen, für Menschen mit Beeinträchtigungen ist das Überqueren der Straße innerhalb 12 Sekunden faktisch unmöglich. Der italienische Automobilclub empfiehlt für Fußgänger auf Übergängen mit Ampeln maximal eine Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde vorauszusetzen, idealerweise aber mit 0,75 Metern pro Sekunde zu planen, damit auch Menschen mit Beeinträchtigung die Straße sicher überqueren können. Gleichzeitig sollten die Rotzeiten für Fußgänger 60 Sekunden nicht überschreiten, um den Frust im Rahmen zu halten. Das heißt also an einer Kreuzung, die täglich von vielen tausenden Menschen überquert wird und damit zu den am stärksten frequentierten Fußgängerübergängen Bozens und Südtirols gehört, sieht die Verkehrsplanung für Fußgänger das gesetzlich vorgesehene absolute Minimum und für die Autofahrer die maximale Zeitspanne vor. |
Prioritäten müssen umgekehrt werden
Jeder und jede, der/die selbst hin und wieder zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, kennt die in den drei Praxisbeispielen angeführten und ähnliche Probleme aus der eigenen Umgebung, wo es bei der Verkehrsplanung Verbesserungsbedarf gibt. Für sich genommen sind sie einfache Unannehmlichkeiten. In Summe aber machen sie Alternativen nach wie vor langsamer, komplizierter und unbequemer als das Autofahren. Wenn wir das ändern wollen, müssen die in der bisherigen Planung benachteiligten Verkehrsmittel massiv unterstützt und die Infrastrukturen dafür ausgebaut werden, und zwar auf Kosten des bisher immer priorisierten motorisierten Individualverkehrs. Auch die für Radwege und Gehsteige notwendigen Flächen müssen, wo es immer möglich ist, dem motorisierten Individualverkehr abgerungen werden. Nur so kann der Mensch wieder das Maß der Raumplanung werden und nicht das Auto. Denn „viel zu lange haben wir Dörfer und Städte geplant, als wollten wir Autos glücklich machen. Dabei sollen Dörfer und Städte doch Menschen glücklich machen“ (Jan Gehl).
Text: Florian Trojer
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